Walker Evans (1903-1975)
Walker Evans gehört zu den großen Persönlichkeiten der Photographiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Sein Schaffen ist maßgeblich für eine Photographieausrichtung, die als „dokumentarischer Stil“ bezeichnet wird. Er selbst verwandte im Kontext seiner Tätigkeit die Bezeichnung „lyrische Dokumentation“, worin sich nicht zuletzt sein großes Faible für die Literatur spiegelt, steuerte er zunächst eine Karriere als Schriftsteller an. Ungefähr ab 1928 aber wandelte sich sein Berufsplan und die Photographie erhielt Vorrang.
Über Jahrzehnte hinweg bis in die Gegenwart gewann das umfangreiche photographische Werk Evans' zunehmend Vorbildcharakter. In den fünf Dekaden seines Schaffens hat der Photograph mit nüchtern registrierenden Aufnahmen ein einzigartig authentisches Bild Amerikas aufgezeichnet und wie kein anderer vor ihm mit besonderem Empfinden für das Alltägliche und Subtile – das American Vernacular –, identitätsstiftende und geschichtsträchtige Momente ins Bewusstsein gebracht. Seine Aufmerksamkeit für das allzu Flüchtige, seine Achtung vor der nur scheinbar profanen Gegenwart, vermittelt seine stete Suche nach tieferem Verständnis und einer angemessenen Haltung gegenüber seinen Motiven. Entsprechend wechselte Walker Evans auch seine Kameraausrüstung, sei es, dass er mit einer Kleinbild–, Mittelformat– oder Großbildkamera arbeitete. In seinem Oeuvre stehen Persönliches wie Professionelles im produktiven Wechsel zueinander. Biographisches kann ebenso nachvollzogen werden wie das sich wandelnde Zeitbild Amerikas, von der großen Wirtschaftskrise bis hin zu sich stabilisierenden Zeiten und geschäftigem Alltagsgeschehen.
Die Evans-Rezeption legt einen Schwerpunkt auf seine Photographien der amerikanischen Depressionszeit, die er in den 1930er-Jahren im Auftrag der Farm Security Administration erarbeitete – nicht zuletzt verfestigt durch die 1971 im Museum of Modern Art in New York präsentierte Retrospektive. Sein immenses photographisches Schaffen umfasst weit mehr, zu nennen sind beispielsweise frühe Eindrücke der 1920er-Jahre aus seiner Wohngegend in New York; Bildnisse seiner Freunde und Mitstreiter, die Rückschlüsse auf sein verzweigtes kulturelles Umfeld zulassen; Architekturen des 19. Jahrhunderts; Bildreihen aus Tahiti und Kuba; afrikanische Skulpturen und Masken, entstanden im Auftrag des New Yorker Museum of Modern Art; Straßenansichten, amerikanische Denkmale, Schaufensterauslagen fern des Big Business’ oder in der New York Subway entstandene Portraits der Fahrgäste, aufgenommen mit verdeckter Kamera.
Im Bestand der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur befindet sich eine Auswahl von fünf Motiven aus den 1930er-Jahren.
Biographie
1903 geboren in St. Louis
1922 Phillips Academy, Andover, und Williams College, Williamstown
1923/1924 Geht mit dem Wunsch, Schriftsteller zu werden, nach New York, arbeitet in
der New York Public Library.
1926 Paris-Aufenthalt, befasst sich mit französischer Literatur, erste
Photographien
1927 Rückkehr nach New York. Seine Künstlerfreunde Hanns Skolle, Paul Grotz
und Hart Crane bestärken ihn in seiner photographischen Arbeit.
1928–1930 Begegnung mit Lincoln Kirstein, erste Kontakte zum MoMA, New York,
Freundschaft mit dem Künstler Ben Shahn. Wird über Berenice Abbott auf
Atget aufmerksam. Veröffentlichung von Evans-Bildern in The Bridge
von Crane
1931 Serie über Viktorianische Häuser. Evans’ Essay "The Reappearance of
Photography“ erscheint in dem Magazin Hound & Horn.
1932 Schiffsreise nach Tahiti, neben Photographien entsteht ein 35mm-Film.
1933/34 Photographiert in Kuba für das Buch The Crime of Cuba (1934) von
Carleton Beals. Erster Auftrag für das Wirtschaftsmagazin Fortune. Das
MoMA zeigt die Ausstellung Photographs of 19th-Century Houses mit 39
Evans-Photographien.
1935 Walker Evans photographiert im MoMA Exponate von African Negro Art.
Aufnahmen im Süden der USA. Er lernt Jane Smith Ninas kennen, Heirat
1941. Kooperation mit Resettlement Administration (später Farm
Security Administration, FSA).
1936 Im Auftrag von Fortune mit dem Schriftsteller James Agee in Hale
County, um die prekäre Situation von Pächterfamilien zu dokumentieren.
1937/38 Ende der Tätigkeit für die FSA. Retrospektive Walker Evans. American
Photographs im MoMA. Portraits von Fahrgästen der New Yorker Subway.
1940/41 Erstes Guggenheim Fellowship. Das Buch Let Us Now Praise Famous
Men über drei Pächterfamilien in Alabama erscheint mit Texten von Agee
und Photographien von Evans aus dem Jahr 1936.
1943 verfasst Rezensionen für Time magazine
1945 feste Anstellung bei Fortune (bis 1965)
1947 Retrospektive im Art Institute of Chicago
1955/1956 Agee stirbt. Scheidung von Jane Smith Ninas. Begegnung mit John
Szarkowski, dem späteren Direktor der Photographieabteilung des MoMA
(ab 1962), reist für Sports Illustrated nach Großbritannien.
1959 zweites Guggenheim Fellowship
1960 erfolgreiche Neuauflage von Let Us Now Praise Famous Men. Heiratet
Isabelle Boeschenstein von Steiger (Scheidung 1973).
1962 erneute Präsentation von American Photographs im MoMA
1964/1965 Professur für Graphic Design, Yale University, New Haven (bis 1972)
1966 das Buch Many are called und das Portfolio Message from the
Interior erscheinen. Szarkowski richtet am MoMA die Ausstellung
Walker Evans. Subway Photographs aus.
1969 Photographiert bei Robert Frank in Nova Scotia, Kanada
1971–1973 Großer Erfolg der Retrospektive Walker Evans im MoMA, kuratiert von
Szarkowski, danach Wanderausstellung. Reise nach London, Kauf einer
Polaroid SX-70 Kamera.
1975 Walker Evans verkauft seine photographischen Abzüge. Stirbt in New
Haven an einem Schlaganfall.