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Judith Joy Ross (*1946)
Die amerikanische Photographin Judith Joy Ross zeigt uns psychologisch einfühlsame Portraits von Menschen, die das Individuelle ebenso wie eine weite Spannbreite emotionaler Befindlichkeiten und Physiognomien vor Augen führen: Kinder, aufgenommen in ihrer Freizeit und Schule, Jugendliche auf dem Sprung in die Erwachsenenwelt, Menschen in der Begegnung mit politischen Fragestellungen wie Teilnehmer von Anti-Kriegsdemonstrationen, Männer und Frauen in ihren Berufen, engagiert im Ehrenamt oder in elterlicher Rolle. Dabei begegnet sie dem Einzelnen mit großer Offenheit und Respekt, sucht sein Bild im Alltag, fern von Schönheitsidealen und medialen Klischees. Öffentliche Orte wie der Stadtpark oder das Denkmal für die Gefallenen und Vermissten des Vietnamkriegs in Washington, D.C., sind ihr ebenso würdige Orte zu photographieren wie Schulen oder Straßen und Plätze der Nachbarschaft. Dann ist es die spezifische Präsenz der Aufgenommenen, der Augenblick der Kontaktaufnahme, die Judith Joy Ross mit Freude erlebt und faszinieren. Die Kamera wirkt dabei auf ihre eigene Wahrnehmung wie ein klärender Filter. So versteht sich, dass sie, nach dem Rezept für ihre Aufnahmen befragt, einmal antwortete, dass sie sich weniger als Urheberin der Bilder sieht, denn als Vermittlerin einer gemeinsam erlebten Situation.
Ihre Arbeit verfolgt die Künstlerin bevorzugt in über längere Zeit entwickelten Bildgruppen, die verschiedene Personenkreise und gesellschaftliche Hintergründe ansprechen. Dabei ist ihr August Sander ein wichtiges Vorbild. Wie der berühmte deutsche Photograph hat auch sie ein individuelles Gesellschaftspanorama entworfen, ausgehend von ihrer Heimatregion in Pennsylvania, USA. Während Sander seinem Projekt eine weitgreifende, fast wissenschaftliche Systematik zugrunde legte, die er über Jahrzehnte hinweg beibehielt und vervollständigte, folgt Ross einem persönlichen Arbeitsprogramm, in dem alle von ihr erarbeiteten Sequenzen als Einheiten verstanden werden, die auf verschiedenen Ebenen Aspekte des menschlichen Lebens berühren.
Zur Umsetzung ihrer Aufnahmen greift die Photographin zu Großbildkamera und Stativ. In der Handhabung aufwendig, erfordert dies Konzentration und Geduld, ermöglicht aber im Ergebnis bewusst ausbalancierte und fein gezeichnete Photographien von großer Stofflichkeit. Diese werden von Judith Joy Ross als Kontaktabzüge von 8 x 10 inch-Negativen auf Auskopierpapier mit Goldtonung ausgearbeitet, und weisen höchst differenzierte Graustufen auf. Damit nimmt die Künstlerin ein Verfahren aus der Frühzeit der Photographie auf, überführt es in die Gegenwart und konfrontiert uns nachdrücklich mit der Magie des Realität aufzeichnenden Mediums.
Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur besitzt eine Auswahl aus den SerienPortraits at the Vietnam Veterans Memorial, Washington, D.C., 1984, Easton Portraits, 1988, Hazleton Public Schools, 1992–1994, sowie Einzelbeispiele aus unterschiedlichen Projekten. 2002 fand in den Räumlichkeiten der Institution eine Kabinettausstellung mit Aufnahmen von Judith Joy Ross statt. Des Weiteren waren einige Werke in Best Of, der ersten umfangreichen Präsentation des hauseigenen Bestands, vertreten, 2006 wurden Aufnahmen von Ross im Rahmen der Sonderschau der Photographischen Sammlung anlässlich der Art Cologne gezeigt.
Biographie:
1946 geboren in Hazleton, Pennsylvania
1964 Moore College of Art, Philadelphia, Pennsylvania
1968 Institute of Design, Illinois Institute of Technology, Chicago, Illinois
1985 John Simon Guggenheim Memorial Foundation Fellowship
1986 Artist Fellowship, National Endowment for the Arts
1988 City of Easton/Pennsylvania Council on the Arts Grant
1992 Charles Pratt Memorial Award, The George Gund Foundation
1993 Pennsylvania Council on the Arts Grant
1998 Andrea Frank Foundation Award
2000 Anonymous Was A Woman Award
Einzelausstellungen (Auswahl):
Allentown Art Museum (1985, 1997); Pennsylvania Academy of the Fine Arts, Philadelphia (1987; San Francisco Museum of Modern Art (1993); Sprengel Museum Hannover (1996); Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop (2003, 2008); Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln (2011); Fondation A, Brüssel (2013); Galerie Thomas Zander, Köln (2017).
Literatur:
Judith Joy Ross, The Museum of Modern Art, New York, Essay Susan Kismaric, New York: Harry N. Abrams, Inc. [Contemporaries: A Photography Series], 1995; Judith Joy Ross. Portraits, Sprengel Museum Hannover, Text Thomas Weski, Hannover, 1996; Judith Joy Ross. Portraits of the Hazleton Public Schools. Hazleton, Pennsylvania, 1992–1994, Yale University Art Gallery, Text: Jock Reynolds, New Haven & London: Yale University Press, 2006; Judith Joy Ross. Protest the War, Text Andrew Szegedy-Maszak, Göttingen: Steidl, Pace/MacGill, 2007; Judith Joy Ross. Living with War – Portraits, Hrsg. Heinz Liesbrock für das Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, Text Heinz Liesbrock, Göttingen: Steidl, 2008; Judith Joy Ross. Photographien seit 1982, Hrsg. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Text Gabriele Conrath-Scholl/Claudia Schubert, München: Schirmer/Mosel, 2011.